Das Recht auf das eigene Nest
Eine Fledermaus hat in Deutschland den Kampf gegen einen Industrieriesen entschieden. Gut so! Aber einige ökologische und moralische Maßstäbe drohen dabei aus dem Ruder zu laufen. Ein persönlicher Rückblick.
10.2022 - Zurück zur Übersicht
Meine Großmutter wohnte in einem deutschen Dorf in der rheinischen Tiefebene zwischen Köln und Aachen. Das Dorf hieß Steinstraß, sein Name rührte daher, dass die sogenannte „Steinstraße“, eine gepflasterte antik-römische Landstraße, durch den Ort führte.
Das Bemerkenswerte an dem Dorf ist: Es existiert nicht mehr. In den Achtzigerjahren fiel es dem Hambacher Braunkohleabbau zum Opfer, der dort im großen Stil betrieben wurde. Als Kinder haben wir oft die gigantischen Schaufelradbagger bestaunt, die die Erde über der Braunkohle abtrugen, mit Schaufeln so groß, dass in ihnen ein LKW Platz hätte.
Im Laufe der Jahre entstand so ein gigantischer Krater in der Landschaft, die abgetragene Erde bildete einen künstlichen Berg, 13 Quadratkilometer groß und 300 Meter hoch. Ich konnte den „Hambacher Berg“ von meinem Heimatdorf aus sehen, das in der flachen Tiefebene knapp 20 Kilometer entfernt liegt.
Seit der Bekanntgabe der Umsiedlungspläne war das Dorf Steinstraß stark von Abwanderung geprägt, in meiner Erinnerung an meine letzten Besuche im Heimatdorf meiner Großmutter war der Ort bereits ein Geisterdorf. Bald darauf wurde er dem Erdboden gleichgemacht.
Die Bewohner wurden an den Rand einer nahegelegenen Kleinstadt umgesiedelt. Ein komplett neuer Stadtteil entstand, er wurde auf den alten Namen „Steinstraß“ getauft. An das ursprüngliche Dorf erinnert nur noch die römische Steinstraße, die in die neue Siedlung transloziert wurde, und eine Kapelle der Schützenbruderschaft, die möglichst originalgetreu nachgebaut wurde. Ein kläglicher Rest einstiger Heimat.
Das verschwundene Dorf lag an einem ausgedehnten Waldstück, dem Hambacher Forst, der in den letzten Jahren für Furore in den Medien gesorgt hat. Es ist ein Wald mit großen Buchen- und Eichenbeständen, manche von ihnen sind 350 Jahre alt. Große Teile des Waldes waren bereits dem Tagebau zum Opfer gefallen, doch der Hunger nach Braunkohle ist offenbar immer noch nicht gestillt. Die Abbaugesellschaft „Rheinbraun“ machte sich 2018 daran, den Rest des Waldes zu roden, um auch noch den letzten Rest der Kohle darunter abzubauen. Proteste von Umweltschützern mit wochenlangen Waldbesetzungen waren die Folge. Der Bund für Umwelt und Naturschutz klagte und argumentierte mit der Gefährdung der geschützten Bechsteinfledermaus, die dort ihr Bruthabitat habe. Schließlich verhängte das Oberverwaltungsgericht Münster einen Baustopp. Ein Jahr später wurde das Ende der Rodungspläne verkündet.
Dass der Rest des alten Hambacher Waldes weiterexistiert, verdankt er also einer Fledermaus. Ein winziges Tier hat geschafft, was bis dahin noch niemandem gelungen war: dem Wirtschaftsriesen Rheinbraun Einhalt zu gebieten. Damit wird dem kleinen Vampir etwas zugestanden, was tausenden entwurzelten und enteigneten Familien in Dutzenden gerodeten Dörfern jahrelang vorenthalten wurde: das Recht auf das eigene Nest. Was für ein Paradigmenwechsel, was für eine Verschiebung der Wertmaßstäbe!
Um nicht missverstanden zu werden: Es ist äußerst begrüßenswert, dass der Tierschutz so bedeutsam geworden ist. Und ein Unternehmen wie die W.E.B, das stets Akzeptanz und Bürgerbeteiligung großgeschrieben hat, unterzieht sich jeder Umweltverträglichkeitsprüfung mit größter Gewissenhaftigkeit. Artenschutzmaßnahmen begleiten alle Phasen der Projektierung und des Betriebs einer W.E.B-Anlage. So wurden etwa die Bauarbeiten zum Windpark in Grafenschlag ausgesetzt, als ein Schwarzstorch-Horst in Baustellennähe entdeckt wurde. (Am Ende stellte sich heraus, dass das Nest von einem Mäusebussard bewohnt war – aber das ist eine andere Geschichte.) Bei allen Projekten werden Ausgleichsflächen für Rodungen von Windanlagenflächen geschaffen, um das ökologische Gleichgewicht wiederherzustellen. Zu einer speziellen Maßnahme kam es beim Windkraftprojekt in Dürnkrut: Hier wurde Elefantengras angebaut, das hoch genug wächst, um Beutetieren von Raubvögeln Unterschlupf zu bieten. Es dient dazu, dass sich Raubvögel hier erst gar nicht ansiedeln, weil ihre natürliche Nahrung selbst vor Adleraugen sicher ist.
Kein Zweifel, all diese Maßnahmen haben ihren Sinn und ihre Berechtigung. Aber etwas stimmt an den Relationen nicht mehr, der moralische Kompass wurde innerhalb einer Generationsspanne ins Groteske verkehrt. Als Argument gegen die Rodungspläne des Braunkohle-Giganten hätte eigentlich schon der Gedanke genügen müssen, dass die Politik nicht eine längst überfällige Energiewende verkünden und gleichzeitig den weiteren Abbau fossiler Brennstoffe genehmigen kann. Aber nicht dieses Argument hat die Rheinbraun gestoppt, sondern eine Fledermaus.
Man sollte sich vor Augen halten: Bis vor Kurzem hatte man keine Skrupel, tausenden Menschen buchstäblich den Boden unter der Existenz wegzubaggern, wenn darin Kohle zu finden war. Damals ging es um unsere Energieversorgung zur Sicherung eines Wohlstands, den wir jahrzehntelang als selbstverständlich angenommen haben und immer noch genießen. Heute geht es um eine neue, nachhaltige Energieversorgung, weil die bisherige dabei ist, unser Klima nachhaltig zu schädigen. Ich denke, es ist längst an der Zeit, eine besonnene Mitte in der Abwägung der Bedrohungen zu finden. Klima- und Naturschutz dürfen nicht länger getrennt voneinander betrachtet werden.