Die Geburtsstunde von Wind- und Sonnenstrom
Die Krise als Chance: Was wir aus der Ölkrise von 1973 lernen können. Ein historischer Rückblick.
12.2022 - Zurück zur Übersicht
Zwei eindringliche Kindheitserinnerungen verbinde ich mit der Ölkrise von 1973, eine positive und eine negative. Die positive: Es war ein erhebendes, abenteuerliches Gefühl, als wir Kinder mit unseren Fahrrädern und Rollschuhen, manche auch in Pferdekutschen über eine völlig leere Autobahn fahren konnten. Sie führte an unserem Nachbardorf vorbei und war für gewöhnlich rege befahren von täglichen Berufspendlern zwischen Köln und Aachen.
Die Regierung von Willy Brandt hatte für November und Dezember 1973 vier autofreie Sonntage erlassen, und die Menschen hielten sich daran. Die negative Erinnerung: Mein Vater hatte eine Sonderfahrerlaubnis, weil er in der Schaltwache einer nuklearen Kernforschungsanlage arbeitete. Aufgebrachte Passanten, die das nicht wussten, warfen mit Steinen nach dem Wagen, der da allein durch die Dörfer fuhr.
Die Menschen meinten es also ernst. Die Anspannung resultierte aus dem Gefühl, dass der soeben erst aufgebaute Wohlstand wieder auf dem Spiel zu stehen schien, weil die ölproduzierenden Länder drohten, den Treibstoff für den Wohlstand abzudrehen, das Öl. Auch die weiteren Einschränkungen des frisch erlassenen „Energiesicherungsgesetzes“ in Deutschland verursachten keine großen Proteste, nicht einmal Tempo 80 auf Bundestraßen und 100 auf Autobahnen.
Der Hintergrund: Die OPEC, die Organisation der erdölexportierenden Länder, reduzierte als Reaktion auf den israelisch-arabischen Krieg, den Yom-Kippur-Krieg, ihre Erdöllieferungen an den Westen. Neun erdölfördernde Länder drosselten die Produktion Monat für Monat um fünf Prozent, um so die vollständige Evakuierung israelischer Truppen aus den arabischen Territorien zu erzwingen. Mit der Folge, dass die Ölpreise explodierten. Bundeskanzler Brandt wandte sich am 24. November mit einem dramatischen Appell an die Bevölkerung:
„Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges wird sich morgen und an den folgenden Sonntagen vor Weihnachten unser Land in eine Fußgängerzone verwandeln. Die Energiekrise kann auch zu einer Chance werden. Wir lernen in diesen Wochen, dass wir auf gegenseitige Hilfe angewiesen sind.“
Auch in Österreich reagierte man auf die Ölkrise, auch wenn der Kommentator der Austria Wochenschau vom 25. Jänner 1974 zu beruhigen versucht: „Im Gegensatz zu anderen Ländern gerät Österreich nur in den ersten Tagen in einen Krisentaumel. Dann erweist sich, dass auf der sogenannten Insel der Seligen die Lage nicht so dramatisch ist wie anderswo. Denn erstens deckt Österreich ein Viertel seines Erdölbedarfs in Eigenproduktion, zweitens kann die ÖMV direkt mit den arabischen Ländern verhandeln. Die kleine kontinentale Republik ist von den internationalen Benzinfirmen weniger abhängig als manch großes Land.“
Doch als der Preis für eine Tankfüllung von einem Tag auf den anderen plötzlich die magische 100-Schilling-Grenze durchbrach, hatte auch Österreich seinen kurzen Krisentaumel. Es kam zu Panikkäufen, Benzinkanister wurde Mangelware, einige Menschen füllten gar ihre Badewannen mit Mineralöl.
Die Regierung Kreisky reagierte anders als die Amtskollegen im Nachbarland, man führte keinen fixen autofreien Tag ein, sondern ließ den Bürgern die Wahl, sich einen Tag auszusuchen. Am 14. Jänner 1974 verordnete das Handelsministerium in Wien den autofreien Tag für Pkw-Nutzer. Jeder Lenker war verpflichtet, sein Fahrzeug an einem Tag in der Woche stehen zu lassen und das mit einem Tages-Pickerl, das eigens ausgegeben oder auch selbst gestaltet wurde, an der Windschutzscheibe zu dokumentieren.
Kreisky wartete auch mit weiteren Empfehlungen auf, etwa die Büros nicht über 20 Grad zu heizen. Unvergesslich ist sein Appell an alle Männer, sich nass statt elektrisch zu rasieren. Auch eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h wurde eingeführt, die damals sogenannten „Energieferien“, die Semesterferien im Februar, erlebten ihre Geburtsstunde.
Die Ölkrise blieb nur eine kurze Episode, denn schon am 24. Dezember 1973 drehten die OPEC-Länder den Ölhahn wieder auf. Und nach fünf Wochen war der Pickerl-Spuk in Österreich wieder vorbei. Auch das Tempolimit von 100 km/h wurde im März wieder abgeschafft. Was blieb, waren die Energieferien und die Sommerzeit.
Dennoch hat sich die Ölkrise ins kollektive Gedächtnis eingebrannt und einige Weichen gestellt, die erst heute zur Gänze sichtbar werden. Dass die Chance in der Krise, von der Brandt in seinem beschwörenden Appell spricht, sich noch auf einem anderen Feld auftun würde, ahnte der Kanzler damals wohl noch nicht in voller Tragweite. Denn die Energiekrise von 1973 wurde nicht zuletzt zur Geburtsstunde von Wind- und Sonnenstrom. Bald darauf sollte die Entwicklung von Wind- und Solaranlagen einen ersten regelrechten Boom erleben. Damals wurde jene Pionierarbeit geleistet, ohne die die heutige Energiewende kaum denkbar wäre.
Vor knapp 50 Jahren waren die Menschen sogar bereit, zur Überwindung einer Energiekrise eine Einschränkung ihrer Mobilität in Kauf zu nehmen. Liegt womöglich in der aktuellen Energiekrise, die auf der Verknappung von Gas aus politischen Motiven beruht, am Ende auch eine Chance? Sollten wir den heutigen historischen Moment nicht dazu nutzen, um mit voller Kraft auf den Ausbau der erneuerbaren Energie zu setzen und rasch die Voraussetzungen für die Entwicklung von Stromspeicherung für die dezentrale Energieversorgung zu schaffen? Denn nur auf diesem Weg können wir uns eine krisenfeste und autonome Energieversorgung für die Zukunft sichern und gleichzeitig dem Klimawandel etwas Nachhaltiges entgegensetzen. Dann werden wir aus einer historischen Krise gestärkt und für die Zukunft gewappnet herauskommen.