Flauten und Stürme
Windflauten waren einst für die Schifffahrt mindestens so bedrohlich wie Stürme. Sie sind auch für einen Windparkbetreiber eine Herausforderung. Zugleich liegt im Umgang mit der Flaute eine große Chance für die Energiewende.
10.2022 - Zurück zur Übersicht
„Gott behüte uns vor dem stillen Wasser, denn von dem wilden befreien wir uns selbst!“ – Mit diesem Stoßgebet brachten Seeleute einst eine Urangst zum Ausdruck, die jahrhundertelang die Segelschifffahrt begleitete. Mit Sturm konnte eine erfahrene Mannschaft fertig werden. Aber gegen eine längere Flaute war man machtlos, das Schiff lag mit schlaffen Segeln bewegungslos auf der unbewegten See, oft in brütender Hitze, weil die Windstille vor allem am Äquator auftaucht, wo die senkrecht stehende Sonne die Luft aufheizt. Dann erwärmen sich die Passatwinde, die dort aus Nord und Süd aufeinandertreffen, und steigen gemeinsam in die Höhe, statt horizontal in die Segel zu blasen.
Ein Handelsschiff, das tage-, manchmal wochenlang in einer Flaute lag, war eine finanzielle Katastrophe für den Schiffseigner, weil der Warentransport stillstand. Nicht selten war es auch lebensbedrohlich für die ganze Besatzung, wenn die Vorräte und das Trinkwasser allmählich zur Neige gingen. Wind ist nun einmal ein unberechenbarer Gefährte, bisweilen auch ein windiger Hund.
Der Wind wurde für die Schifffahrt natürlich auch dann zum Problem, wenn zu viel von ihm da war. Ein veritabler Sturm auf hoher See war für eine Mannschaft eine enorme Herausforderung, und der Kapitän stand oft vor einer schwierigen Entscheidung: Wie lange konnte man die scharfe Brise nutzen, um ein gutes Stück voranzukommen? Und wann war es höchste Zeit, die Segel zu bergen, um keinen Mastbruch zu riskieren? Ein Kapitän Ahab auf seiner besessenen Jagd nach Moby Dick hatte da womöglich andere Maßstäbe als ein besonnener Handelskapitän, der dem Reeder Mannschaft, Schiff und Ware heil zurückbringen musste.
Und ausgerechnet mit diesem wetterwendigen Element gehen wir nun erneut ein Bündnis ein, wenn wir unsere Energieversorgung auf erneuerbare Quellen umstellen. Die Probleme sind auf den ersten Blick durchaus vergleichbar. Ein Windrad, das stillsteht, liefert keinen Strom, Flauten machen einem Windparkbetreiber ebenso wenig Freude wie einst dem Reeder eines Segelschiffs. Und bei Sturm stehen die Überwacher der Windanlagen vor der gleichen Entscheidung wie einst der Schiffskapitän: Kräftiger Wind lässt die Räder rasant rotieren und jede Menge Grünstrom produzieren, aber ab welcher Windstärke lauft ein Windrad Gefahr, Schaden am Material zu nehmen? Wie gut, dass man mit Windrädern keine weißen Wale jagen kann, die Zeit der irren Haudegen auf der Brücke ist vorüber. Es gibt Geschwindigkeitsbegrenzungen für Rotoren und klare Richtlinien, bei welcher Windstärke ein Betreiber abschalten muss.
Dennoch ist die derzeitige Energiewende zumindest auf den ersten Blick eine Rückkehr zu vorindustriellen Bedingungen, wir müssen wieder lernen, mit den Naturgewalten umzugehen. Was manchen allzu kühn und waghalsig erscheint, ist jedoch in Wahrheit eine grüne Revolution, die noch gar nicht in ihrer ganzen ökologischen Tragweite erfasst ist. Übrigens selbst der Aspekt Flaute.
Es war für den Handel und die Industrie zweifelllos ein ungeheurer Innovationsschub, als die Schiffe plötzlich in der Lage waren, jeder Windflaute mit einem motorisierten Antrieb eine Nase zu drehen. Doch der Preis dafür war hoch. Denn all diese Motoren wurden und werden mit fossiler Energie betrieben, und inzwischen wissen wir, was für desaströse Folgen diese Revolution in Mobilität und Transport für das Weltklima hatte. Wetterextreme, Überschwemmungen und schmelzende Gletscher, sterbende Wälder, verschwindende Tierarten und verödende Landschaften sind die Belgleiterscheinungen unseres Wohlstands geworden.
Es liegt schon eine gewisse Ironie darin, dass uns zur Bewältigung der Klimakrise gar nichts anders übrigbleibt, als uns erneut jenem wankelmütigen Wind auszusetzen, von dem wir uns einst mit fossiler Energie emanzipiert hatten. Eine Energiewende ist ohne Windenergie nicht zu schaffen. Vielleicht entspringt ja das Schreckgespenst des drohenden Energie-Blackouts, das die Gegner der Energiewende so gern an die Wand malen, ebenjener Urangst vor der bedrohlichen Windflaute, die jahrhundertelang den Seefahrern das Leben schwer gemacht hatte. So etwas gräbt sich ein ins kollektive Gedächtnis.
Dabei haben wir heute ganz andere Möglichkeiten, mit Flauten fertig zu werden. Denn Wind ist ja beileibe nicht ja nicht die einzige nachhaltige Quelle. Wenn Windstille herrscht, kann Sonnenenergie einspringen. Und wenn sich zur Flaute der Schatten gesellt, können wir auf Wasserkraft oder gespeicherten Strom zurückgreifen. Gerade die Speicherung von Energie birgt noch viel ungehobenes Potenzial. Auch Sektorkoppelung und geändertes Nutzerverhalten wird künftig eine wesentliche Rolle spielen, um den Launen der Natur gerecht zu werden. Da ist derzeit so manches in vielversprechender Entwicklung.
Kein Zweifel: Die „Rückkehr“ zur Windkraft ist in Wahrheit ein Fortschritt, ein Aufbruch in Richtung Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Das Augenmerk liegt dabei natürlich in erster Linie auf der Einsparung des klimaschädlichen CO2. Doch die Energiewende hat noch einen anderen Aspekt, der viel zu wenig beachtet wird, und er führt tatsächlich zurück in jene Zeiten, als der Mensch noch ohne Gas, Öl oder Kohle den Launen von Wind und Wetter ausgesetzt war. Die Energieversorgung aus Wind und Sonne bringt uns gleichsam natürliche Maßstäbe und Dimensionen in der Ressourcennutzung zurück. Sie zwingt uns dazu, unseren Bedarf mit Gegebenheiten zu arrangieren, auf die wir keinen Einfluss haben. Wir müssen lernen, die Natur als Partner und nicht mehr als grenzenlos ausbeutbare Ressource zu sehen.
Vielleicht sollten wir den historischen Moment in der Geschichte der Energieversorgung, vor dem wir derzeit stehen, zu einem kurzen Innehalten nutzen. Wer sich an so etwas Kühnem und Tiefgreifendem wie eine Energiewende heranwagt, der darf nicht vor der Frage zurückschrecken, wie viel Energie wir künftig überhaupt brauchen und wofür. Was hat Priorität, wo können wir einsparen, was ist eher ein Luxus? Wenn wir uns auf diese Fragen verständigen, können wir den fiktiven Verknappungsszenarien mit weit größerer Gelassenheit begegnen und müssen nicht im Voraus jede denkbare Flaute mit Volldampf kompensieren. Denn die Erwartung, dass nach der Energiewende alles so sein wird wie vorher, entspringt einem Denken, das uns erst in die ökologische Krise geführt hat, in der wir uns jetzt befinden.
Ein Windrad kann die Natur nicht beherrschen, es kann nur ihre Kräfte bündeln und nutzen. Wer den Gedanken der erneuerbaren Energie ernst nimmt, der muss der Natur auch die Chance geben, ihre Kräfte zu erneuern. Flauten, Stürme und Wolken gehören dazu, sie sind Teil der Natur. Wir sollten lernen, mit ihnen zu leben. Wenn wir das verinnerlichen, dann kann die Energiewende eine sanfte Revolution sein, von der alle profitieren.
Übrigens hatte die Windflaute für die Seefahrer auch oft ihr Gutes. Völlige Windstille mit aufsteigender warmer Luft war nicht selten ein Vorbote heftiger Gewitter. Der dann einsetzende Regen war für die Mannschaft nach Tagen der brütenden Hitze ein kühlender Segen, der sämtliche Trinkwasserfässer füllte. Die Segel, die sich plötzlich im Gewitterwind wieder blähten, müssen ein erhabener Anblick gewesen sein.